Spiel ohne Regeln … von Johannes Martin

Langsam rutscht der Wels von meinem Schoß …

Im mittlerweile fast glasklaren Wasser verschwindet sein wunderschön gezeichneter Körper, ehe er zum Abschluss noch einmal mit der Schwanzflosse zu winken scheint. Da sind ein paar gute Fotos dabei, murmelt Sven mit konzentriertem Blick auf sein Kameradisplay. Gut, entgegne ich kurz und knapp, während ich mich mit meiner vollgelaufenen Wathose aus den eisigen Fluten erhebe und gelähmt vor Kälte relativ unentspannt zur Liege kraxele.

Wenig später wärmt mich mein trockener Thermoanzug von außen und ein heißer Kaffe von innen. Die Gedanken sind immer noch beim Fisch. »Jetzt sag mir mal, wieso der Fisch genau an der Rute kam, macht doch gar keinen Sinn!?!« Schulter zuckend antwortet Sven: Keine Ahnung, kann das noch überhaupt nicht zuordnen. Wieder einmal war eine der so genannten »Regeln« gebrochen. Eine dieser unzähligen Regeln, auf die man beim Angeln immer wieder stößt. An ihnen kann man sich orientieren, seine Taktik ausrichten und Vorgehensweisen planen. Für uns Angler sind sie wie Leitpfosten am Rande des holprigen Weges, der uns zu unserem Zielfisch führen soll.

Es gibt Regeln für nahezu jede Komponente, die Einfluss auf das Verhalten des Welses und damit den Ausgang unseres Ansitzes haben könnte: Jahreszeit, Temperatur, Wasserstand …, und vieles mehr. Sie sind das Ergebnis aus vielen Stunden, die wir auf der Jagd nach einem unserer Lieblinge verbracht haben, dem, was wir dabei erlebt haben und dessen, was wir in diese Erlebnisse, unter Betrachtung der jeweils herrschenden Gegebenheiten, hineininterpretiert haben. Regeln sind, wenn man so will, eine selbsthergeleitete Deutung und Erklärung für das, was wir am Gewässer erleben.

Mit jedem Ergebnis …

sei es positiv oder negativ, erhalten diese Deutungen mehr und mehr Nahrung. Neue Erkenntnisse können mit den bereits bestehenden abgeglichen werden und erhärten all unsere bisherigen Schlüsse oder stellen uns vor ein weiteres neues Rätsel. Manche Regeln werden so mit der Zeit klarer und verlässlicher, andere dagegen verblassen nach und nach.

Allerdings gibt es auch sehr oft Momente, in denen all das bisher Erlebte und die daraus gewonnene Sicherheit auf dem rechten Weg zu sein, über den Haufen geworfen werden. Dies ist meistens dann der Fall, wenn man denkt, man wäre fast am Ziel und hätte den Silure zumindest teilweise durchschaut. Entweder wir fahren dann als Schneider nach Hause und wissen nicht warum, oder es gibt Fische an Montagen, die hätten eigentlich gar nicht gefangen werden »dürfen«, um ins Schema zu passen.

Beides stellt uns erneut vor ein großes Fragezeichen. Das Gerüst, das wir so mühsam, unter viel Zeitaufwand errichtet haben, bricht wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Es geht bei null wieder los. An solch einem Morgen fällt mir das Zusammenpacken ganz besonders schwer. Während ich dann, im Falle einer Schneidernacht, frustriert mein Auto belade, ist es immer die gleiche Frage, die in meinem Kopf umherschwirrt: »Gibt es überhaupt eine Regel…?«

Der letzte Schluck Kaffee …

ergießt sich in meinen Rachen. Ich spüre, wie die heiße Flüssigkeit in meine Körpermitte gelangt und von dort aus die Wärme in meine Gliedmaßen zurücktreibt. Auch das zweite Paar Wollsocken spielt seine Stärken nun voll aus und lässt mich meine Zehen wieder spüren.

Nichts desto trotz registriere ich so langsam, dass der Winter uns nun doch eingeholt hat. Wurde ja auch Zeit, immerhin ist es mittlerweile Ende Januar. Sven sitzt immer noch auf seiner Liege und blickt nachdenklich auf den Fluss. Auch er scheint sich damit zu beschäftigen, dass das Ergebnis dieser Nacht einmal mehr fernab jeder Regel lag. Wären wir dieser gefolgt, würden wir nun wohl einen tiefen Gumpen oder eine tief ausgespülte Rinne befischen, denn die Wassertemperatur beträgt knappe sechs Grad. Durch einen zwar fallenden, aber dennoch erhöhten Wasserstand sind wir jedoch gezwungen einen Spot mit Strömungsschatten zu fischen. Dieser Platz weist eine Tiefe von knapp 2,4 Meter auf, und der besagte Fisch biss in ca. 1,4 Meter tiefem Wasser, was sich für uns, unter diesen Vorrausetzungen, jeder Logik entzieht.

Während ich so darüber nachdenke fällt mir auf …

dass ich im letzten Winter ähnliche Situationen erlebte. Wasserstand, Wassertemperatur und Beschaffenheit des Platzes waren damals fast identisch. Auch Fische konnten wir fangen. Damals noch als Zufall abgestempelt verdeutlicht es sich mir nun immer mehr, dass diese Fische vielleicht doch keine Zufallsprodukte waren. Bei erhöhtem Pegelstand veranlasst die starke Hochwasserströmung viele Fische, egal ob Wels oder Futterfisch, Schutz in den wenigen Strömungsschatten zu suchen.

Aufgrund der geringen Anzahl solcher Stellen nimmt die Fischdichte dort natürlich entsprechend zu. Die Silure und ihre potenzielle Beute liegen nun nebeneinander. Das sedimenthaltige, braune Wasser macht die Jagd darüber hinaus zum leichten Spiel für den Räuber. Er wäre dumm, solch eine Gelegenheit nicht zu nutzen. Vor allem, weil er so die in der Strömung verlorenen Energiereserven wieder auffrischen kann.

Sieht man die Sache unter Berücksichtigung …

der beschriebenen Gesichtspunkte, erhält der gefangene Fisch also doch eine gewisse »Logik«, auch wenn wir uns in diesem Moment der Standartmarschrute vom »tiefen Fischen im Winter«, komplett gelöst haben.

Doch nicht nur bei der Platzwahl kann es lohnen etwas genauer hinzuschauen und sich ab und an vom Gewohnten abzuwenden. Da es zu der winterlichen Thematik gut passt möchte ich zuerst auf die Köderfischauswahl eingehen, denn auch sie kann für den Fang von entscheidender Bedeutung sein.

Schleien und Karpfen sind, genau wie Karauschen …

normalerweise sehr gute Köder. Hat man sie lebendig im Einsatz (natürlich nur wo erlaubt) kann es Nächte geben, in denen man allein wegen der Köderfischaktion kaum ein Auge schließen kann. Karauschen und Karpfen sind wahre Kraftpakete und arbeiten die ganze Nacht. Mit den so an ihr Umfeld abgegebenen Stressimpulsen und Druckwellen reizen sie unseren Zielfisch sehr verlässlich zum Biss.

Dies ändert sich, sobald die Temperaturen in den Keller sinken. Hat sich die Skala des Thermometers unter zehn Grad eingependelt sind Trägheit und Regungslosigkeit bei karpfenartigen Ködern die Folge. Sie verharren nun auf der Stelle und verlieren so die Lockwirkung, für die wir sie in den warmen Monaten so schätzen. Die Glöckchen an den Rutenspitzen verstummen, und es zeigt sich nichts vom Tanz sommerlicher Nächte. Sessions ohne Biss sind das Resultat.

Nun an Karausche und Co. festzuhalten …

weil sie ja laut Regelbuch gute Köder sind, wäre der falsche Weg, denn das sind sie in dieser Phase nicht. Jetzt stechen andere Köder. Weißfische aller Art haben sich als echte Kälte-Joker erwiesen, und auch Forellen sind schwer zu toppen. Ihnen scheinen die purzelnden Temperaturen weniger auszumachen und beeinträchtigen sie kaum in ihrer Aktion an der ausgelegten Montage. Somit bleibt die Reizwirkung auf den Waller komplett erhalten, was sich positiv auf die Anzahl der Attacken auswirkt.

Der Rest des Jahres, abseits der frostigen Monate, bringt ebenfalls Situationen mit sich, in denen es sich in Fisch auszahlen kann, dass man sich kurzzeitig den veränderten Gegebenheiten anpasst. Neben der Platzauswahl und den Ködern gibt es Perioden, in denen auch die Art und Weise, wie man einen Platz angeht, an Relevanz gewinnt. Damit meine ich, dass es auch mal besser sein kann, sich nicht zwanghaft am Echolot festzuklammern. Natürlich sollte man die Gewässerstruktur nie außer Acht lassen, da Abbruchkanten oder die Umgebung tiefer Löcher immer sehr markant sind. Dennoch kann es von großem Nutzen sein Augen und Ohren für andere, teilweise sehr offensichtliche Präsentationsalternativen offen zu halten.

Um das Ganze an einem Beispiel zu erklären …

kommt mir als erstes die Frühjahrszeit in den Sinn, wenn die Friedfische die Flachwassergebiete aufsuchen, um zu laichen. Erwärmen sich die Gewässer im April oder Mai auf die, für die Fortpflanzung nötigen Temperaturen, finden sich die laichbereiten Fische, wie Brassen oder Karpfen zumeist in großen Scharen in den seichten Zonen eines Flusses oder Sees ein. Dort vollziehen sie ihr Liebesspiel, wühlen dabei das flache Wasser auf und legen sich so stark ins Zeug, dass selbst für uns Angler ein kaum unbemerkt bleibendes Schau- bzw. Hörspiel entsteht.

Klar, dass auch der Waller von solch einem enormen Fischaufkommen nicht unbeeindruckt bleibt und sich der Fokus vieler Welse auf dieses Laichspiel richtet. Gerade an großen Gewässern, wo Abbruchkanten und das Echolot sonst unsere besten Partner für den Fang eines Silures sind, ist es manchmal besser, jetzt nicht wie gewöhnlich ins Boot zu steigen, sich komplett auf das Echolot zu verlassen und alle Montagen, getrieben von der »Kanten-Regel« entlang des Strukturmusters zu fächern.

Viel eher sollte man versuchen das aktuelle Spektakel im und rund um das Laichgebiet auszunutzen. Hier erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, einen Abnehmer für unsere angebotenen Happen zu finden, während die Chance für einen Fisch an einer »Standard-Kante« geringer ist. Sicherlich wird man dort auch seinen Fisch fangen, die Joker im gut gedeckten Buffet werden aber sicherlich eher ziehen.

Gehen wir nun ein paar Monate weiter und landen im Hochsommer …

Die winterlichen Regen- oder gar Schneefälle sind den Hitzeperioden der Sommermonate gewichen. Das Thermometer erreicht sowohl über, als auch unter der Wasseroberfläche seine Höchstmarke. Der Sauerstoffgehalt fällt, genau wie die Pegelstände der Flüsse, und das Wasser schleppt sich mühsam und zäh durchs Flussbett. Die Fische reagieren auf diese Veränderungen, suchen sich Passagen, in denen das Wasser aufgewühlt, durchgemischt und mit Sauerstoff angereichert wird. Turbinenausläufe oder Wehre sind dafür natürlich wie geschaffen. Hier tummeln sich nun viele Beutefische.

Wollen wir unsere Montagen ausbringen stößt das Echolot jedoch schnell an seine Grenzen, da die beschriebenen Bereiche oft eine sehr eintönige Beschaffenheit aufweisen. Dies ist nun aber von untergeordneter Bedeutung, denn der Wels orientiert sich in diesem Fall nicht an einer Kante, um an seine Mahlzeit zu gelangen, sondern folgt dem aktuell hohen Nahrungsangebot an diesem Ort. Selbst im flachen Wasser und über völlig gleichmäßigem Untergrund kann man nun mit Attacken, auch großer Fische, rechnen. Das »Gesetz«, sich an Kanten orientieren zu müssen greift erneut nicht.

 Auch ein von Jahreszeiten unabhängiges Phänomen …

kann uns bei unseren Planungen manchmal das Leben schwer machen – der Wind. Was bei Karpfenanglern häufig fester Bestandteil der Platzwahlkriterien ist, kann auch beim Angeln auf Wels von großer Bedeutung sein. Drückt der Wind über Stunden oder gar Tage auf ein bestimmtes Ufer, werden dort kontinuierlich Kleinstlebewesen und andere nahrhafte Leckerbissen aufgewirbelt. Findet man windbelastete Zonen, die eine geringe Tiefe aufweisen, können diese durch das aufgemischte Wasser sogar eine braune Färbung erhalten.

Dies bleibt meist nicht unbemerkt, sodass sich nach kurzer Zeit erste Nutznießer wie Kleinfische, Weißfische und Karpfen dort einfinden. Was den Zielfisch des Carpanglers direkt anlockt führt den Silure nun indirekt in die umgewälzten Gebiete, denn die zahlreichen Brassen, Rotaugen und Karpfen versprechen ihm ebenfalls ein breites Beutespektrum. Auch hier ist es wieder völlig egal, wie das Gebiet strukturmäßig beschaffen ist. Der Wels lässt sich von der Aussicht auf Nahrung leiten und wird für uns, wenn wir uns stur in eine gewisse Marschrichtung, sprich die Bodenstruktur verrennen, nur schwer zu fangen sein.

Gerade diese Szenerie konnten wir schon sehr oft miterleben …

und bekamen mitunter klar aufgezeigt, wie entscheidend es sein kann, auf das Geschehen am Wasser zu reagieren und Alteingesessenem zeitweise weniger Beachtung zu schenken. Das extremste Beispiel war dabei eine Nacht, in der mein Freund Andre fünf Fische bis knapp an die 2m-Grenze fangen konnte. Alle an der gleichen Rute. Die Rute lag als einzige der acht Stecken an einem der beschriebenen Windprallufer. Die anderen Ruten, deren Montagen genau an Abbruch- und Strömungskanten postiert waren, brachten es im selben Zeitraum auf einen einzigen, halbstarken Fisch. Eine prägende Nacht, die uns auf ganz brutale Weise verdeutlichte, dass der Weg zum
Wels nicht zwangsläufig übers Echolot und die darauf abgebildeten Muster führt, auch wenn »Mütterchen-Regel« es gerne so hätte.

Nach der Platzwahl …

den verschiedenen Ködermöglichkeiten und dem Auslegen der Montagen möchte ich als letzten Punkt meiner Aufzählung gerne noch auf den Anhieb beim Biss eingehen. Ein Thema, bei dem die Meinungen auseinander driften. Manche warten, bis die Reißleine vom Fisch gesprengt wird, um erst dann anzuschlagen, andere schlagen voll in die konstante Vorwärtsbewegung der Rute. Ich wähle normalerweise immer die zweite Variante und schlage den Fisch an während er die Rute krümmt.

Ich denke, dass dies der Moment ist, in dem der größtmögliche Kontakt zwischen Angler und Fisch besteht und ich die Kraft aus dem Abzug des Welses nutzen kann, um ihm die Haken sicher im Maul zu verankern. Ein wahres »Fehlbiss-Intermezzo«, das ich mit meinem Freund Carsten Ende Oktober im Süden Frankreichs erlebte, zeigte aber, dass auch bei dieser heiklen Thematik, bei der ich mich vorher niemals auf eine Diskussion eingelassen hätte, ein Umdenken den Fang von Fischen einleiten kann.

Wir befischten damals eine sehr heiße Ecke und hatten sehr viele Takes. Höhepunkt war eine Nacht, in der auf der gleichen Rute vier Fische ein- und wenige Minuten später wieder ausstiegen. Wir standen kurz davor wahnsinnig zu werden, denn es gab nichts, was man hätte noch ändern können.

Die Haken waren neu und messerscharf …

saßen gut im Köfi, der Anhieb war hart und in keiner Sekunde wurde die Spannung von der Schnur genommen. Trotzdem stiegen die Waller aus. Ein Telefonat mit unserem Freund Sven brachte dann nur weitere Verwirrung, denn er meinte, wir sollten die Fische beim Biss einfach mal abreißen lassen. Unseren Fragen und Zweifeln zu diesem Vorschlag gaben die Fische dann selbst eine Antwort, als zwei knüppelharte Bisse die Reißleinen kappten, bevor wir auch nur die geringste Chance hatten, frühzeitig anzuschlagen. Und siehe da, die Fische hingen.

Die Lösung war so gut wie einfach und bestätigte sich in den folgenden Tagen in weiteren Bartelträgern auf der Abhakmatte. Wir mussten uns nur darauf einlassen, das Gewohnte ruhen zu lassen und der Regel entgegenzuarbeiten. Um meine anfangs gestellte Frage zur Existenz einer Regel nun wieder aufzugreifen und zu beantworten möchte ich die ganzen verschiedenen Ausführungen und Gedanken abschließend zusammenfassen. Ich denke, dass es beim Angeln auf Wels keine festen Regeln gibt. Vielmehr sind es verschiedene Faktoren, die zusammenspielen und je nach Dominanz eines gewissen Faktors bestimmen, welche Vorgehensweise von Erfolg gekrönt sein wird. Um regelmäßig zu fangen muss es uns als Angler gelingen einzuschätzen, wie relevant jeder einzelne Faktor zum Zeitpunkt des Fischens ist und wie stark er auf das Verhalten der Fische Einfluss nehmen wird.

Darüber hinaus müssen wir den Spagat schaffen …

die grundlegenden Wegweiser, wie beispielsweise die Gewässerstruktur nicht außer Acht zu lassen und gleichzeitig temporär auftretende Besonderheiten, wie die Prallufer des Windes, mit einzubeziehen. Gelingt uns das, haben wir gute Karten am Ende des Tages belohnt zu werden.

»Ja, so ist es, so muss es sein«, sprudelt es aus mir heraus, und plötzlich sitze ich wieder auf meiner Liege. Mit meinem Thermoanzug und meiner leeren Tasse. Svens Liege liegt zusammengeklappt neben mir, er hat sich bereits daran gemacht, seine Sachen im Auto zu verstauen. Aus der Seitentür glotzt mich Eddie mit seinem treu-doofen Gesichtsausdruckan, als wolle er mich fragen: »Was ist, bleibst du hier?«

Ich muss grinsen, stehe auf und beginne zu packen. Im Hinterkopf immer noch das Spiel.

Das Spiel ohne Regeln …